Philosophischer Rabatz

Gedanken zur Gerechtigkeit

Gedanken zur Gerechtigkeit

Populäre Argumente von Migrationsgegner*innen sind Aussagen wie „Das Boot ist voll!“, „Flüchtlinge kosten nur Geld.“ oder „Die nehmen uns die Arbeit weg!“, kurz: die Angst davor, benachteiligt bzw. ungerecht behandelt zu werden.

John Rawls setzte sich 1971 in seinem Werk A Theory of Justice mit der Frage nach Gerechtigkeitsprinzipien auseinander. Er konzipierte ein Gedankenexperiment. Stell dir eine gute Gesellschaft vor. Wie sähe diese aus? Eine der ersten Fragen, die sich viele stellen, lautet: Wer bekommt was? Wenn du reich bist, stellst du dir vielleicht eine Gesellschaft vor, in der harte Arbeit belohnt würde. Oder eine Gesellschaft, in der reiche Menschen automatisch noch reicher würden. Wenn du arm bist, würdest du dir vielleicht wünschen, dass die Schere zwischen Arm und Reich kleiner würde und Güter gleicher verteilt würden.

Abhängig vom Standpunkt, den du einnimmst, ändern sich deine Vorstellungen. Und unterschiedliche Menschen gehen von verschiedenen Standpunkten aus.

Der Schleier des Nichtwissens

Rawls plädiert dafür, den „Urzustand“ (original position) als Ausgangspunkt zu nehmen, um die Frage zu beantworten, welche Gerechtigkeitsprinzipien in einer Gesellschaft gelten sollen.

Es handelt sich um einen Zustand, in dem die persönlichen Präferenzen keine Rolle spielen. Du weißt nicht, in welcher gesellschaftlichen Position du dich befindest, welches Geschlecht du hast, welche sexuelle Orientierung, welche Religion und so weiter. Und du weißt auch nicht, wie es bei den Mitmenschen aussieht. Rawls ist der Ansicht, dass gerechtere Prinzipien hinter diesem so genannten Schleier des Nichtwissens entstünden.

Wie lässt sich dieses Gedankenexperiment nun mit Migration und der Frage nach Gerechtigkeit zusammenbringen?

Angenommen, die Migrationsgegner*innen wüssten nicht, auf welcher Seite der Grenze sie geboren werden. Für welche Gerechtigkeitsprinzipien würden sie argumentieren? Vermutlich würden auch sie Werte wie Gleichheit, Freiheit und das Recht auf Unversehrtheit nennen. Diese sind aber – wenn überhaupt – nur schwer vereinbar mit der Position von Migrationsgegner*innen. Worauf bezieht sich Gleichheit, wenn nicht auf gleiche Rechte und insbesondere das Recht, sich den Lebensort frei auswählen zu dürfen? Worauf bezieht sich Freiheit, wenn nicht auf die Freiheit, sich bewegen zu dürfen?

*Übrigens: Nach Rawls kann es in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedliche Gerechtigkeitsgrundsätze geben, der Schleier des Nichtwissens ist vor allem eine Methode und keine inhaltliche Vorgabe. Allerdings argumentiert Rawls für zwei Gerechtigkeitsprinzipien: 1) Das gleiche Recht auf Grundfreiheiten und 2) Soziale und ökonomische Ungleichheiten sollen so arrangiert werden, dass a) die am Schlecht-Gestelltesten den größten Vorteil davon haben (difference principle) und b) alle Menschen faire und gleiche Möglichkeiten haben, öffentliche Ämter zu bekleiden.