Philosophischer Rabatz

Philosophieren mit Reality-TV

Philosophieren mit Reality-TV

Für viele von uns ist “Netflix & Chill” ein Hobby, das sich manchmal verkehrt anfühlt. Was könnte man in der Zeit nicht alles machen! Doch es gibt gute Gründe, die ein oder andere Show zu gucken – auch und gerade aus philosophischer Perspektive. Gastautor Hendrik Kempt ist Herausgeber von „RuPaul’s Drag Race and Philosophy – Sissy That Thought“. Darin schreiben Phiosoph*innen über besagte TV-Show.

Erscheint am 03.12.2019 und ist im Buchhandel deines Vertrauens bestellbar.

Titel: Rupaul’s Drag Race and Philosophy
Herausgeber: Hendrik Kempt & Megan Volpert
Verlag: Carus Publishing Company
ISBN: 978-0-8126-9478-9
Preis: ca. 19€

Die Show – RuPauls Wat?

Die wunderbare Welt von RuPaul RuPaul’s Drag Race (RPDR) ist eine US-amerikanische Reality-TV Show, in der Drag Queens über mehrere Wochen in verschiedenen Challenges gegeneinander antreten, um als Gewinnerin 100,000$ und einen ruhmreichen Titel mit nach Hause zu nehmen. Diese Challenges erfordern Fertigkeiten im Schauspiel, im Kostümdesign, im Singen, in Witz und Schlagfertigkeit, sowie ein ausgeglichenes Maß an Kreativität und Wissen. Oder, wie es RuPaul nennt, „Fierceness“.

Mit bald 12 Staffeln allein in den USA, internationalen Ablegern in Großbritannien und Thailand, eigenen Messen („DragCon“) und den eigenen Karrieren ehemaliger Teilnehmerinnen hat sich Drag Race als kultureller Eckpfeiler nicht nur in der Drag- und LGBTQ* Subkultur etabliert, sondern auch in der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft Platz gefunden. In Deutschland streamt Netflix die Show seit 2017 in allen 11 Staffeln und trägt so zu ihrer Verbreitung bei. Mit der momentan auf Pro7 laufenden Show „Queens of Drag“ hat RPDR zudem Konkurrenz inspiriert, die eine weitere Verbreitung von Drag als anerkannte Kunstform wahrscheinlich macht.

RPDR ist geprägt von der legendären New Yorker Ball Culture der 1980er Jahre – vom Wettbewerbsformat über sprachliche Konventionen zum Hang für Drama entstammt vieles jener , an der RuPaul selbst schon teilnahm. (Mehr zur New Yorker Ball Culture findest Du auf Wikipedia über die Ball culture oder in der Netflix-Serie „Pose“ oder in der Dokumentation „Paris is Burning“)

Sissy That Thought – warum RPDR und Philosophie sich gar nicht so fremd sind

RuPaul’s Drag Race and Philosophy ist ein populärwissenschaftliches Buch mit dem Ziel, Fans der Serie philosophische Gedanken und Argumente näherzubringen und zugleich den philosophischen Reichtum der Serie auszuarbeiten.

Drag Race bietet damit nicht nur auf den ersten Blick viele philosophische Anknüpfungspunkte. Die Show präsentiert Identität als eine grundsätzlich fluide Angelegenheit – und Fragen nach der Kohärenz und Stabilität der eigenen Identität wurden bereits bei Größen wie Platon, Descartes, Hume und Nietzsche diskutiert. Man denke hier an Platons Analogie vom Schiff des Theseus, oder Descartes nicht weiter diskutierten Annahme des „ich“ als letzter Instanz des Zweifels. Aber auch Nietzsche, der die Identität einer Person als sich selbst als eine sich über Zeit hinweg verändernde Größe verstanden hat, hätte viel zu Drag zu sagen.

Drag als Kunstform eröffnet hier einen neuen Blick und eröffnet für Drag Queens nicht selten den Weg zur Realisierung und Expression der eigenen Identität, und Drag Race liefert die Gesichter und Geschichten, um diese oft unzugänglichen Debatten verständlich zu machen.

Aber auch Fragen der sprechakttheoretischen Qualität und ethischen Rechtfertigkeit von spielerischen Beleidigungen („Reading“), wie sie in der Drag-Szene üblich sind, sind nicht ohne weiteres klar: wann und unter welchen Bedingungen ist eine Beleidigung ein „Read“, und wann ist es einfach nur eine Beleidigung? Wie weit darf eine Drag Queen in diesem Sprachspiel gehen, und werden die Grenzen von der beleidigten Person (mit-)gesetzt?

Und dann ist da noch die Frage nach der Realität. Kann eine so fundamental auf Illusion, Performance und epistemologischer Verschleierung basierender Subkultur wie Drag überhaupt einen Begriff von Realität haben? Schließlich ist das Ziel dieser Kunstform, unsere Konzeption von dem, was real ist, zu dekonstruieren. So ist etwa„Fishiness“, d.i. das Kriterium, nach welchem die Illusion einer Frau bewertet wird, darauf ausgelegt, die etablierten Unterschiede von (cis) Mann und Frau zu untergraben – auch ontologisch. Drag entlarvt Geschlechternormen als eine Konstruktion der Mehrheitsgesellschaft, und das Herunterreißen dieser Normen ist Teil der Kunst und Tradition von Drag.

Der Ausdruck „Realness“, als Markierung für eine besonders klare Imitation dieser Konstruktion, wird angewandt, um eine gewisse Kongruenz mit Realitäten zu kennzeichnen – ob imitiert oder nicht. Was aber nun Realness, Realität, und Wirklichkeit miteinander verbindet, sie trennt, und ggf. durch eine Perücke und Minirock wieder zu einander führt, wird in diesem Buch über verschiedene ontologische Entwürfe beantwortet – von Heidegger zu Goffman.

Zuletzt ist Drag immer auch eine Charakterstudie der Tugendethik. RuPaul’s Kardinaltugenden, „Character, Uniqueness, Nerve, and Talent“, verlangen von Drag Queens gewisse Größe, Eifer und Zielstrebigkeit. Allerdings wird von ihnen auch eine gewisse Solidarität und Empathie verlangt, um die Gemeinschaft der Drag Queens zu erhalten und befördern. Ist hier etwa ein Tugendkonflikt zu vermuten, oder lassen sich diese Unvereinbarkeiten über Aristoteles‘ Lehre vom Mittelmaß entschärfen?

Die Autor*innen in RPDR & Philosophy

Das Projekt selbst wurde über einen offenen Call for Abstracts gestartet, mit Beitragenden von über 10 verschiedenen Ländern, von Professor*innen bis Doktorand*innen zu Freelance-Schreiber*innen ist alles dabei. Kate Bornstein, selbst Autorin und langjährige LGBTQ* Aktivistin, schrieb das Vorwort; das Cover wurde von Cheyne Gallarde gestaltet.