Philosophischer Rabatz

Hören wir auf, einander negativ abzustempeln!

Hören wir auf, einander negativ abzustempeln!

»Die Alterität ist eine grundlegende Kategorie des menschlichen Denkens. Keine Gemeinschaft definiert sich jemals als die Eine, ohne sich sofort die Andere entgegenzusetzen.« Simone de Beauvoir, „Das andere Geschlecht“, Erstes Buch, Einleitung

Wer bist Du? – Wenn wir auf die Frage nach unserer Identität antworten, beziehen wir uns immer auch ein wenig auf unsere Gruppenzugehörigkeiten. Indem wir das tun, setzten wir voraus, dass es Andere gibt – und übernehmen oft sogar das, was sie über uns sagen.

1954, Robbers Cave State Park, Oklahoma.
22 zwölfjährige, einander unbekannte Jungen nehmen an einem Experiment teil. Zufällig teilt sie der Versuchsleiter Muzafer Sherif in zwei Gruppen ein. Jede Gruppe verbringt eine Woche in einem Pfadfindercamp – ohne von der jeweils anderen Gruppe zu wissen.
In dieser Woche lernen die Jungen in ihrer Gruppe zusammenzuarbeiten, entwickeln ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit und finden einen Gruppennamen. „The Eagels“ (Die Adler) nennt sich eine Gruppe, „The Rattlers“ (Die Klapperschlangen) die andere.

Adler vs. Klapperschlangen: aus sportlichen Wettkämpfen werden Angriffe

In der zweiten Woche begegnen sich Adler und Klapperschlangen. Sie treten im Baseball und Tauziehen gegeneinander an, die Gewinner erhalten Medaillen, die Verlierer: nichts.
In den folgenden Tagen werden Fahnen verbrannt und Schlafstellen verwüstet, die beiden Gruppen müssen voneinander getrennt werden. Was ist passiert?
Nach der Ankündigung der Spiele kümmerten sich die Klapperschlangen um das Spielfeld, beanspruchten es als „ihr“ Spielfeld und hissten dort ihre Gruppenfahne. Die Versuchsanordnung sah vor, dass es Situationen gibt, in denen eine Gruppe zu Lasten der anderen profitiert: so wurde organisiert, dass eine der Gruppen zu spät bei einem gemeinsamen Picknick eintrifft – die andere Gruppe hatte bereits alles aufgegessen. Die gegenseitige Abneigung schaukelte sich hoch, aus verbalen Auseinandersetzungen wurden physische Übergriffe. Die Adler verbrannten die Fahne der Klapperschlangen, woraufhin diese das Lager der Adler stürmten, Betten umwarfen und Gegenstände stahlen. Nach einigen Tagen ohne Kontakt sollten die Jungen Eigenschaften ihrer Gruppe und der Gruppe der anderen aufschreiben. Beide beschrieben sich selbst in positiven Begriffen und schrieben der jeweils anderen Gruppe negative Eigenschaften zu.

Das oben skizzierte Experiment führte Muzafer Sherif im Rahmen seiner Konflikt-Theorie durch. Er wollte damit zeigen, dass und wie Menschen in Konflikte geraten, sobald Konkurrenzsituationen entstehen.

Labelling und Identität – was kommt zuerst?

Ich habe erst in diesem Jahr vom „Robbers Cave Experiment“ gelesen – in Anthony Appiahs Buch „Identity – the lies that bind“ (Hier habe ich das Buch rezensiert).
Appiah nutzt das Experiment, um etwas zu verdeutlichen. Er schreibt, dass Adler und Klapperschlangen anschließend die (negativen) Zuschreibungen der anderen Gruppe für sich übernahmen. Das spreche gegen unser Alltagsverständnis, nach dem unterschiedliche Normen zu unterschiedlichen Identitäten führen. Es sei genau anders herum.

„Labels came first then, but essences followed last. The boys didn’t develop opposing identities because they had different norms; they developed different norms because they had opposing identites.“ (Die Zuschreibungen waren zuerst da, dann folgte die Essenz. Die Jungen haben keine gegensätzlichen Identitäten entwickelt, weil sie unterschiedliche Normen hatten; sie entwickelten unterschiedliche Normen, weil sie unterschiedliche Identitäten hatten.)

Für Appiah ist das entscheidend. Wir verwenden Label, die uns sagen, zu welcher Gruppe wir gehören, wie wir uns verhalten sollen und wie andere sich uns gegenüber verhalten sollen. Wir gehen davon aus, dass die Essenz (unser Wesen, das, was uns ausmacht) zuerst da ist und wir daher berechtigt seien, Label zu verteilen. Wir dürfen Leute in Schubladen zu stecken. Die Einteilung in „Schalke-Fan“ oder „Dortmund-Fan“, „SPD-Wähler“ oder „AfD-Wählerin“ macht unser Leben einfacher. Wir erwarten dann ein bestimmtes Verhalten und wissen, ob wir gemeinsame Wertvorstellungen haben oder eben nicht.

Erst Verhalten, dann Zuschreibung? – Was ist, wenn es genau anders herum ist?

Appiah bestreitet nicht, dass Label, also Zuschreibungen zu bestimmten Gruppen („Du bist Schalke-Fan“, „Ich bin CDU-Wähler“, „Sie ist weiblich“, …) das Zusammenleben einfacher machen. Möglicherweise ist es für unser Zusammenleben sogar notwendig, dass wir einander labeln. Wie die Klapperschlangen und Adler können wir nicht anders, als uns gegenseitig Stempel auf die Stirn zu drücken. Das „Robbers Cave Experiment“ zeigt uns aber, dass wir uns selbst kritisch hinterfragen sollten, wenn wir anderen Menschen negative Eigenschaften zuschreiben.

Denn: in welchen Gruppen wir sozialisiert werden, liegt zu großen Teilen außerhalb der Reichweite unserer eigenen Entscheidungen. Wir werden in eine soziale Schicht geboren, wachsen in einem bestimmten Stadtteil (oder Dorf) auf. Unsere sozialen Kontakte bestimmen unsere Identität. Und in diese Identität fließen die Fremdzuschreibungen anderer mit ein. Viel zu oft sind diese abwertend. Wenn wir uns aber bewusst machen, wie dieser Mechanismus funktioniert, können wir stattdessen auch positive Label verwenden, um Gruppen voneinander zu unterscheiden. Statt Ablehnung ließe das die Bewertung der anderen Person offen. In einer pluralen Gesellschaft wäre das ein wichtiger Beitrag zum gelingenden, kooperativen Zusammenleben.

Weitere Quelle:
https://www.simplypsychology.org/robbers-cave.html